- Volksmusik und nationale Schulen
- Volksmusik und nationale SchulenDas erstarkende Nationalbewusstsein der europäischen Völker im 19. Jahrhundert führte in vielen Ländern, die sich bis dahin an italienischen, französischen oder deutschen Vorbildern orientiert hatten, zu Neuansätzen im Musikleben, in der Selbsteinschätzung der Komponisten und im Stil der Kompositionen. Gemeinsames Kennzeichen dieser »Nationalen Schulen« in Ost- und Südosteuropa sowie in Skandinavien ist der Versuch, sich von klassisch-romantischen Traditionen zu lösen und ein eigenständiges musikalisches Idiom zu entwickeln.Die klanglichen Mittel dazu stammen in erster Linie aus dem Volkslied und dem Volkstanz, in Russland auch aus den Gesängen der orthodoxen Kirche. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Skalen, die vom Dur-Moll-Schema abweichen, altertümlich modale, pentatonische oder ganztönige Tonleitern, asymmetrische Metren (Fünfertakt, Siebenertakt) und sprachgebundene Rhythmen. Akkordverbindungen sind oft nicht mehr funktional einzuordnen und benutzen kirchentonartliche Stufenfolgen, terzverwandte Harmonieschritte, Moll-Dominanten ohne Leitton (in C-Dur: g-b-d statt g-h-d), plagale (dominantlose) Kadenzierungen und mixturartige Parallelführungen. Bei textgebundenen Kompositionen oder Programmmusik bietet außerdem die Stoffwahl reiche Möglichkeiten, sich der Landschaft oder der Geschichte des eigenen Volkes zuzuwenden. Neben der sinfonischen Dichtung wurde daher die Oper insbesondere in Osteuropa zur bevorzugten Gattung nationaler Musik.In Russland beginnt die Geschichte der Nationaloper mit den bahnbrechenden Werken »Das Leben für den Zaren« (1836) und »Ruslan und Ljudmila« (1842) von Michail Glinka. Auf ihn als Vorbild berief sich in der folgenden Generation eine Gruppe von Komponisten, Milij Balakirew, Nikolaj Rimski-Korsakow, Modest Mussorgskij, Aleksandr Borodin und Zesar Kjui, die der Kritiker Wladimir Stassow 1867 ein »mächtiges Häuflein« nannte, und die von Glinkas Schüler Aleksandr Dargomyschskij wichtige Anregungen empfingen. Die genialste Musikerpersönlichkeit dieser fünf Novatoren war Mussorgskij, dessen urwüchsig kompromisslose Handhabung des musikalischen Materials auf spätere Neuerungen, etwa bei Claude Debussy, Igor Strawinsky, großen Einfluss ausgeübt hat. Mussorgskijs Hauptwerk »Boris Godunow« (1874) ist eine der markantesten Schöpfungen der Operngeschichte. Hier wie in seinen Liederzyklen »Die Kinderstube« (1868 bis 1872) oder »Lieder und Tänze des Todes« (1875 bis 1877) herrscht ein Gesangsstil, der allein der Sprache und dem dramatischen Ausdruck verpflichtet ist. Der gleiche leidenschaftliche Realismus prägt auch Mussorgskijs Instrumentalwerke, vor allem den Klavierzyklus »Bilder einer Ausstellung« (1874) und die sinfonische Dichtung »Eine Nacht auf dem kahlen Berge« (1867).Weitgehend unabhängig vom ästhetischen Programm des »mächtigen Häufleins« ist das Schaffen Pjotr Tschaikowskys. Seine Bühnenwerke, darunter »Eugen Onegin« (1879) und »Pique Dame« (1890), beide nach Aleksandr Puschkin, sind keine Nationalopern im eigentlichen Sinne, dennoch aber gewichtige russische Beiträge zur Geschichte der Gattung. Auch in Tschaikowskys Sinfonik und seiner Kammermusik sind die Bindungen an die »westliche« Musik nicht zu leugnen. Andererseits macht gerade das russische Kolorit den besonderen Reiz vieler seiner Kompositionen aus.Im tschechischen Raum gilt Bedřich Smetana als der eigentliche Begründer einer nationalen Musik. Im Ausland ist vor allem seine komische Oper »Die verkaufte Braut« (1866) mit ihren folkloristischen Chören und Tänzen bekannt geworden. Ihm selber lag jedoch sehr daran, auch ernste, heroische Stoffe der tschechischen Geschichte zu vertonen. Hierzu zählen vor allem »Dalibor« (1868) und »Libuše« (»Libussa«, 1881), in denen Smetana musikdramatische Mittel Richard Wagners aufgriff. Doch ähnlich wie in seinen beiden Streichquartetten und in seinen sinfonischen Dichtungen, die von Liszt inspiriert sind, integrierte er die fremden Anregungen in einen national eingefärbten Stil von großer Überzeugungskraft. Der zweite tschechische Komponist internationalen Ranges war Antonin Dvořák. Seine Bühnenwerke sind allerdings nicht so populär geworden wie seine neun Sinfonien - vor allem die letzte während einer Amerikareise entstandene »Aus der Neuen Welt« (1893) - und sein reiches kammermusikalisches Schaffen unter anderem mit 16 Streichquartetten und dem »Dumky«-Klaviertrio (1891).Auch in anderen Ländern Osteuropas gab es nationalmusikalische Bestrebungen. Als eines von vielen Beispielen sei auf die Werke des Ungarn Ferenc Erkel verwiesen, der 1844 die ungarische Nationalhymne komponiert hat. Seine acht Opern, darunter »Hunyadi László« (1844) und »Bánk bán« (1861) fallen in eine Zeit der Aufstände und Restriktionen und gewannen daher nicht nur musikalisch, sondern auch politisch besondere Bedeutung.Durchaus anders als in Osteuropa lagen die Verhältnisse in Skandinavien. Allein die politischen Bedingungen sind nicht ohne weiteres vergleichbar, auch wenn das Streben Norwegens nach Unabhängigkeit von Schweden eine gewisse Parallele zur Situation der Völker innerhalb der Donaumonarchie zeigt. Musikalisch prägend war zunächst die enge Bindung vieler nordischer Komponisten an die deutsche Romantik. Der Däne Niels Gade war mit Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann befreundet und von 1844 bis 1848 Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters. Die Norweger Edvard Grieg und Johan Svendsen studierten ebenfalls in Leipzig. Und der große finnische Komponist Jean Sibelius ging nach Studien in Helsinki 1889 nach Berlin und 1890 nach Wien. Dennoch spielte auch in den nordischen Ländern um die Mitte des Jahrhunderts die Hinwendung zur eigenen Volksmusik eine entscheidende Rolle. Die Lösung von den deutschen Vorbildern und das Studium der im eigenen Lande noch lebendigen Lieder und Tänze gibt namentlich den Bühnenmusiken und Klavierwerken Griegs ihre bezeichnende Tönung. Auch die Nachahmung von Spieltechniken der Volksinstrumente führte zu Neuerungen gegenüber tradierten Klängen. So hat Skandinavien wie die übrigen nationalen Schulen dazu beigetragen, dass der Kunstmusik Europas neue, unverbrauchte Kräfte zuflossen, die die Klangsprache des 19. Jahrhunderts nach und nach veränderten und den Umbruch zur Neuen Musik um 1910 vorbereiteten.Prof. Dr. Peter Schnaus
Universal-Lexikon. 2012.